Nicht weit von uns im Westen,
ja da liegt ein kleines Land,
das ich immer, wenn ich da war,
ziemlich überzeugend fand.
Ein Land mit alten Windmühlen
und mit netten kleinen Städten,
mit Bami, Vla, Frikandeln
und frittierten Fleischkroketten.
So heißt es im Lied „Holland“ von der großartigen Band „Joint Venture“. Mich persönlich hat dagegen eine Sache in den Niederlanden mehr irritiert als Bami, Vla und Frikandeln zusammen. Die Rede ist von den gardinenlosen Fenstern.
Während man in Deutschland als verschroben gilt, wenn man zur Straßenseite hin keine Vorhänge hat, ist es in den Niederlanden umgekehrt. Dort wird man komisch angeschaut, wenn man sein Fenster verdeckt. Als Deutscher, der fast sein ganzes Leben im 4. Stock oder höher gewohnt hat, erschien es mir absurd, dass man in den typischen eingeschossigen Häusern der Holländer problemlos in men Wohnzimmer schauen könnte.
Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass Privatsphäre dort nicht unbekannt ist, sondern dass sie bloß anders gehandhabt wird. In den Niederlanden herrscht die unausgesprochene Vereinbarung, den anderen nicht in die Wohnung zu schauen, obwohl man es theoretisch könnte. Die Methode mag anders und ungewohnt sein. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe wie in Deutschland oder anderen „Gardinenstaaten“: Hier wir dort sind die eigenen vier Wände privater Raum.
Daran muss ich in letzter Zeit häufiger denken, wenn ich Berichte über Google Glass lese und über die damit verknüpften Datenschutzbedenken. Mit Google Glass wird die viel beschworene Augmentierte Realität (AR) zum ersten Mal den Massenmarkt erreichen. Konkret handelt es sich um eine Datenbrille, die Bilder und Texte ins Sichtfeld des Trägers einblenden kann und mittels Sprach- oder Augensteuerung bedient wird. Das von Google entwickelte Produkt soll noch in diesem Jahr auf den Markt kommen.
Die Mahner machen sich vor allem darüber Sorgen, dass ein Google-Glass-Träger von seinem Gegenüber unbemerkt Fotos, Video- und Tonaufnahmen machen kann. Heutzutage kann man auch mit dem Handy aufnehmen, aber in der Regel bekommt man es mit, wenn der andere die Handykamera auf das eigene Gesicht ausrichtet. Bei Google Glass dagegen genügt ein Zwinkern, um die Aufnahme zu starten. Es ist also von außen nicht zu erkennen, ob man gerade gefilmt wird oder nicht. Weitere Szenarien drehen sich um Gesichtserkennung und um die Suche nach dem Facebookprofil noch vor dem ersten Hallo.
Ich bin beim besten Willen kein Freund der Spackeria oder sonstiger Post-Privacy-Verfechter. Trotzdem finde ich die Aufregung um Google Glass übertrieben. Die Datenbrille ist eine Erfindung, die genau wie alle anderen Erfindungen gute und weniger gute Nutzungsmöglichkeiten bietet.
Technisch betrachtet fügt die Augmentierte Realität (bzw. der „Netzraum“, wie Sascha Lobo vorschlägt) der physikalischen Welt eine weitere Dimension hinzu; wer schon einmal Heavy Rain gespielt oder einen Cyberpunk-Roman gelesen hat, der weiß, was damit unter anderem möglich ist.
Das bringt verschiedene Konsequenzen mit sich. Eine besteht darin, dass man mit AR-Produkten wie Google Glass andere Menschen unbemerkt aufzeichnen und ihre Persönlichkeitsrechte verletzen kann. Eine andere Konsequenz ist, dass die AR ganz neue Möglichkeiten eröffnet, mit Computern zu interagieren und Informationen darzustellen. Denkbar wäre z.B. eine Glass-App, die automatisch geschriebene Worte, etwa von Hinweisschildern oder Speisekarten, einliest und die Übersetzung einblendet.
Insofern ist Google Glass / AR wie der Verbrennungsmotor, dessen Konsequenzen ebenfalls zum Teil gut (schnelles Reisen), zum Teil nicht so gut sind (tödliche Verkehrsunfälle). Die Frage ist daher nicht, ob AR-Produkte böse sind oder nicht. Die Diskussion müsste darum gehen, welche Vereinbarungen wir treffen, um sicherzustellen, dass ihr Gebrauch die Rechte des Einzelnen nicht verletzt.
Dass dies möglich ist und dass es verschiedene Lösungen geben kann, zeigt das Beispiel mit den Wohnzimmerfenstern. Jeder Niederländer könnte bei den Nachbarn in die Wohnung schauen und deren Privatsphäre verletzen, doch jeder vertraut darauf, dass es nicht geschieht. In anderen Fällen reicht eine derartige Vertrauensregelung nicht aus. Den (potenziell tödlichen) Autoverkehr z.B. regeln wird durch die Straßenverkehrsordnung und gesetzlich vorgeschriebene Führerscheinprüfungen. Wieder andere Technologien sind noch stärker eingeschränkt (spaltbares Material) oder komplett geächtet (Folter mit Elektroschocks).
Welche Art von Regelung bei Google Glass notwendig ist, muss sich herausstellen. Der Findungsprozess wird mit Diskussionen, Missbrauch und vermutlich auch mit zerschlagenem Porzellan einhergehen. Am Ende werden wir uns auf einen Modus Operandi einigen, was mit Datenbrillen erlaubt bzw. akzeptiert ist, was nicht und wie wir sicher stellen, dass der andere diese Regeln auch wirklich einhält.
Ich persönlich hoffe, dass sich eine vertrauensbasierte Regelung durchsetzt. Eine Idee, wie man diese verwirklichen könnte, hatte ich vor zwei Jahren: Die Do-Not-Tag-Brille.
Wie man an dem (recht unbeholfenen) Prototyp erkennen kann, handelt es sich dabei um ein gut sichtbares Merkmal im Gesicht. Für den Prototyp habe ich eine weißes X auf blauem Hintergrund gewählt, das an der Brille festgemacht wird. Die Do-Not-Tag-Markierung könnte genauso gut aus einem Punkt auf der Stirn, Strichen unter den Augen oder etwas ganz anderem bestehen. Wichtig ist nur, dass die Markierung von allen dahingehend interpretiert wird, dass der Träger nicht fotografiert, gefilmt und getaggt (mit Gesichtserkennung überprüft) werden will, und dass diese Entscheidung respektiert wird.
Gesetzt den Fall, alle halten sich daran (so wie in Holland an die Sache mit den Fenstern), würde die Do-Not-Markierung sämtliche Datenschutzprobleme mit Google Glass ausräumen. Im Idealfall würde die Software von Google Glass und Co. dieses Merkmal gar automatisch erkennen und umsetzen, sprich: die Aufnahme abbrechen bzw. gar nicht erst starten. Das wäre quasi die Vergesetzlichung des sozialen Kodex: Die vertrauensbasierte Verhaltensregel wäre in Code verewigt; oder, mit Lawrence Lessing gesprochen: „Code would be law.“