In seinem Roman Momo schreibt Michael Ende von den Grauen Herren. Das sind gut, aber recht fantasielos gekleidete Leute, die den Menschen die Zeit wegnehmen. In der Welt der Grauen Herren spielen grau in grau gekleidete Kinder „Lochkarte“ und haben wenig Spaß. Das Ganze ist natürlich eine Metapher auf die Leistungsgesellschaft und die Tatsache, dass sich der Wert der Fantasie nicht mit Geld beziffern lässt. 40 Jahre später lässt sich sagen, dass sich Ende in einer Sache geirrt hat: Statt einfarbig grau kommt die Fantasielosigkeit heute quietschbunt daher.
Beweisstück A: „Animal Crossing: New Leaf“.
Dabei handelt es sich um ein Spiel von Nintendo für die Handheld-Konsole 3DS ebendieses Herstellers. Kurz gesagt ist das Animal Crossing: New Leaf (AC:NL) eine Mischung aus Sim City und Die Sims, eine knallbunte Lebens- und Wirtschaftssimulation ohne fest definiertes Ende. Das Spiel ist Teil einer erfolgreichen Serie und hat sich bis Ende März weltweit 3.86 Millionen mal verkauft (in Deutschland ist es am 14. Juni erschienen). Die Bewertungen sind weitgehend positiv. Bei Amazon kostet das Spiel 39,99 Euro, ein Lösungsbuch für einen älteren Teil (Animal Crossing: Let’s go to the City) ist für schlappe 75 Euro zu haben.
Die Videospieltester von Game One, alle um die 30, bejubeln AC:NL wie einen neuen Transformers-Film. In ihrem Beitrag zum Spiel (ab Minute 3:58) zeigen sie einen interessanten Ausschnitt aus einem Interview mit Katsuya Eguchi, dem Produzenten:
In Animal Crossing geht es primär darum, dass die Spieler unzählige Sachen sammeln können, die ihnen gefallen und somit ihren Geschmack widerspiegeln. Dadurch kreieren sie nicht nur ihre eigene Persönlichkeit, sondern stellen sie gleichzeitig zur Schau. So können sie ihre Vorlieben Freunden oder anderen Animal-Crossing-Spieler zeigen und sie sogar mit ihnen teilen.
(Hervorhebung von mir)
Die Sache ist die: Wenn Herr Eguchi „Persönlichkeit“ sagt, meint er in Wahrheit „Einrichtungsstil“. Und das Wort „kreieren“ bedeutet für ihn nicht „schaffen, erschaffen“ (Duden, 24. Aufl.) und auch nicht etwas Neues schaffen, etwas Eigenes hervorbringen, sondern „unter vorgegebenen Möglichkeiten eine auswählen“. Würde er Sprache ernst nehmen, müsste er „multiple choice“ sagen.
Weg vom Neusprech, hin zum Gameplay von New Leaf. Die englische Wikipedia schreibt dazu:
Doing various activities or selling various items earns Bells which players can use to purchase various items such as furniture or clothes, or pay towards loans used to renovate their house.
(Hervorhebung von mir)
Man kann also im Spiel Kredite aufnehmen, um noch mehr zu kaufen und zu konsumieren. Wie lange ist die Hypothekenblase her? Vier Jahre? Fünf? Ist ja auch egal, die Altersfreigabe für New Leaf liegt bei 0 (USK) bzw. 3 (PEGI) Jahren, und die jüngsten Spieler waren damals noch gar nicht geboren.
In seiner Eigenschaft als (nicht abwählbarer) Bürgermeister kann der Spieler Verordnungen erlassen und so z.B. für mehr Sauberkeit oder längere Ladenöffnungszeiten sorgen. Mein persönlicher Favorit: die Hochpreisverordnung.
Zu den Orten im virtuellen Dorf gehören die Einkaufsmeile, ein Musterdorf plus Immobilienmakler und eine Insel mit Schönwettergarantie und Souvenirladen. Die höchste Ausbaustufe des Museums ist der Shop, und ausgestellt werden nur Dinge, die der Spieler selbst stiftet. Hat er genug von seiner eigenen Ausstellung, kann er sich im Kalauer-Club Emotionen „beibringen lassen“. Gegen Bezahlung, versteht sich.
Was es bei Animal Crossing nicht gibt: eine öffentliche Bibliothek, Schulen und Universitäten, Punk, eine politische Opposition, Obdachlosigkeit, Whistleblower, Pfadfinder, Homosexualität, Demonstrationen, alternative Lebensentwürfe. In einem Wort: Dissens. Die Spielwelt ist eine sterile, den Kommerz verherrlichende Parodie des echten Lebens.
Spielwelt und Spielmechanik greifen dabei nahtlos ineinander. Ein Spieler, der vor dem Ausschalten des DS nicht speichert und dadurch seinen Spielfortschritt verfallen lässt, wird beim nächsten Spielstart von einem unfreundlichen Kerl namens Resetti ermahnt, doch bitte in Zukunft weniger nachlässig zu sein.
Das ist nur logisch. Wo kämen wir hin, wenn Kinder nicht mehr spielten, um sich ein größeres virtuelles Haus zu kaufen, sondern einfach nur um des Spielens willen?
Update, 8.7.13: Heute stößt ein kurzer Spiegel-Online-Spieletest von AC:NL in das gleiche Horn. Die Stichworte lauten: Kapitalismus, Konsumzwang, vorwurfsvolle Kakerlaken. Das Sahnehäubchen sind die Kommentare unter dem Artikel, in denen begeisterte AC:NL-Spieler auf ihre Jägerzäune gehen, weil jemand ein böses Wort über ihr Spießerglück verloren hat. Herrlich.