Auf der guten Seite

In den vergangenen Jahren ließ sich immer wieder ein eigenartiges Phänomen beobachten. Es ist nicht wirklich neu, aber durch Massenmedien und Internet lässt es sich heute leichter herbeiführen und wahrnehmen. Die Rede ist vom wütenden, zum Teil hasserfüllten Widerstand, der manchen Menschen entgegenschlägt, die nichts anderes tun, als eine Meinung zu vertreten.

Ein prominentes Beispiel für dieses Phänomen ist #GamerGate. Der Hashtag steht für die unfassbare Welle der Feindseligkeit, die weiblichen Videospielentwicklern und -kritikern seit einiger Zeit entgegenschlägt (hier schrieb ich bereits darüber). Ein anderes Beispiel ist Pegida, insbesondere die Art und Weise, wie sich deren Anhänger über die Medien äußern („Lügenpresse“).

Es gibt einen erstaunlichen Grund, warum Protestierer dieses Schlages so wütend sind: Sie kämpfen um den Erhalt ihrer Unschuld.

Etwas weniger dramatisch ausgedrückt: Wenn man sich in seiner bequemen kleinen Welt eingerichtet hat, ist es der Weg des geringsten Widerstands, diejenigen nieder zu brüllen, die einem die Illusion rauben wollen, anstatt sich mit ihren Argumenten zu beschäftigen.

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Caps Lock an – jemand ist WIRKLICH WÜTEND.

Auch wenn der typische Wüterich – so bezeichne ich diesen Typus der Einfachheit – das nicht glaubt, es geht ihm gut. Sehr gut sogar. Er ist üblicherweise weiß, männlich und heterosexuell, er muss auch ohne Arbeitsplatz keinen Hunger leiden, und vom drohenden Abstieg seiner Lieblingsfußballmannschaft einmal abgesehen hat er keinerlei existenzielle Sorgen. Der Wüterich hat sich in seiner angenehmen Situation eingerichtet und genießt seine Privilegien, ohne sie als solche wahrzunehmen. Er betrachtet sich als einer von den Guten.

Nun tauchen plötzlich Stimmen auf, die andeuten, dass die bequeme Position des Wüterichs möglicherweise eine Last für andere bedeutet und dass sein Verhalten anderen schadet. Zum Beispiel argumentiert jemand, dass die Videospielindustrie ein Sexismusproblem hat, oder dass struktureller Rassismus in den USA auch 2015 noch existiert, oder dass es uns Deutschen gut anstehen würden, den Flüchtlingen in unserem Land mehr Menschlichkeit zu zeigen, weil die deutsche Politik die Armut und die Kriege in ihren Heimatländer häufig mit verursacht haben. Manchmal ist schon die bloße Existenz einer solchen Person genug, um den Wüterich zu verunsichern, etwa wenn der Anblick eines Bettlers ihn daran erinnert, wie gut es ihm eigentlich geht.

Es sind unbequeme Fragen, die hier aufgeworfen werden. Ist es richtig, weiter unreflektiert Videospiele zu spielen, auch wenn er dadurch möglicherweise sexistische Stereotype perpetuiert? Ist es richtig, alle Flüchtlinge pauschal als Wohlstandsschmarotzer zu betrachten oder hatten sie vielleicht doch gute Gründe, ihre Heimat aufzugeben? Ist es richtig, sich ständig über das eigene Schicksal zu beklagen, während andere nicht wissen, was sie am nächsten Tag essen sollen? Derartige Fragen gefährden den Status Quo, in dem der Wüterich sich eingerichtet hat. Sie zwingen ihn, seinen Standpunkt zu hinterfragen, möglicherweise muss er gar sein Verhalten ändern. Und das möchte der Wüterich nicht – nicht nur, weil das mühsam wäre, sondern auch, weil er damit automatisch zugeben würde, dass er bislang falsch lag. Und das kann nicht sein, denn er hat sich ja seine Unschuld bewahrt. Er ist auf der guten Seite, und dort möchte er bestimmt nicht weg.

Der Wüterich steht vor einem Dilemma, das er nur auf einem Weg auflösen kann: Er muss diejenigen, die solche Fragen aufwerden, aus seiner Wahrnehmung entfernen; aus den Augen, aus dem Sinn. Und darum brüllt er sie nieder, diskreditiert sie, stellt sie als Kriminelle und Lügner dar, so lange, bis ihnen keiner mehr zuhört und sie ihn endlich wieder in Ruhe lassen mit ihren unangenehmen Fragen, um die er schon immer einen großen Bogen gemacht hat. Denn das ist der Kern des Ganzen: Nur im Unwissen kann der Wüterich seinen Platz an der Sonne weiter genießen. Es macht keinen Spaß, am Pool zu sitzen, wenn man jenseits des Zauns das Elend sehen kann.

„Wenn du etwas tust, ohne zu wissen, dass es falsch ist, macht es dich nicht zu einem schlechten Menschen.“

Dieser Satz stammt aus der gut einstündigen Youtube-Serie Why are you so angry?. Die sechs Videos erklären auf verständliche und pointierte Weise, wie sich #GamerGate entwickelt hat und wer außer den Wüterichen noch dahinter stand.

Die Videoreihe dreht sich vornehmlich um #GamerGate. Genausogut hätte eine von vielen andere Debatten im Zentrum stehen können:

  • In der Klimaschutzdebatte wurden Wissenschaftler als Alarmisten bezeichnet, die nur deshalb ihre fabrizierten Studien veröffentlichen, damit sie weiterhin Forschungsgelder erhalten.
  • In der amerikanischen Rassismusdebatte wird der Hashtag #BlackLivesMatter gezielt nicht als „Schwarze Leben zählen auch“ gedeutet, sondern als „Schwarze Leben zählen mehr (als weiße)“, um zu insinuieren, die schwarzen Bürgerrechtler wollten nicht die gleichen Rechte wie alle anderen, sondern mehr.
  • Auch Stuttgart 21 lässt sich in dieses Schema einsortieren. Die braven „Wutbürger“ (in Stuttgart wurde der Begriff geprägt) sahen die bedrohten Bäume und sonst nicht viel, obwohl es durchaus ein oder zwei Argumente für den Bahnhofsumbau gab. Doch sich mit diesen auseinanderzusetzen ist anstrengend und dauert lange, wie die Schlichtung gezeigt hat. Und am Ende droht die Gefahr, dass sich die Abholzung der lieb gewonnenen Bäume als die bessere Entscheidung herausstellt – und dass sich die Wüteriche nicht mehr moralisch überlegen fühlen könnten.

Es gibt eine weitere, harmlosere Strategie, um umbequeme Fragen zu vermeiden: „Wenn ein Problem nicht wirklich schlimm ist, muss ich auch nichts dagegen unternehmen.“ Denn etwas zu unternehmen ist mühsam, und natürlich macht es mehr Spaß, zu Hause zu bleiben, als sich auf einer verregneten Demonstration gegen TTIP oder die Vorratsdatenspeicherung die Füße platt zu laufen.

Der Nachteil des Zuhausebleibens ist das schlechte Gewissen, sich nicht engagiert zu haben. Darum kommt hier der Kniff: Wenn die Leute dort draußen gegen etwas demonstrieren, das gar kein wirkliches Problem ist oder zumindest nicht so schlimm, wie sie einem einreden wollen, dann schadet es keinem, wenn ich nicht hingehe – und morgen weiter das praktiziere, wogegen dort draußen protestiert wird.

Klimawandel? Halb so wild, die Sonnenfluktuationen haben einen viel größeren Einfluss auf das Erdklima als der Mensch (und Benzin soll nicht noch teurer werden).

Konzerne und Regierungen speichern alles, was ich im Internet tue? Mir doch egal, ich habe ja nichts zu verbergen (und ich habe kein Lust, mich mit Datensparsamkeit und Verschlüsselung zu beschäftigen).

Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt? I wo, die Gehaltslücke ist doch längst geschlossen, und wer soll denn sonst die Kinder kriegen? (Außerdem bin ich lieber im Büro, als den ganzen Tag aufs Baby aufzupassen.)

Um eins klarzustellen: Jeder von uns ist schon Wüterich und Ignorierer gewesen, und jeder von uns wird es noch viele weitere Male sein. Egal, ob wir die billigen Klamotten von H&M kaufen oder in den Ferien ans andere Ende der Welt fliegen, anstatt mit der Bahn an die Nordsee zu fahren – im Grunde wissen wir alle, dass es besser wäre, das nicht zu tun. Aber wir legen absichtlich keinen Wert darauf, uns genau zu informieren, damit wir nicht zuviel darüber nachdenken müssen, oder wir würgen eine Diskussion ab, die unsere bequemen Überzeugungen zu erschüttern droht. Persönliches Beispiel: Seit Monaten will ich den NDR-Film 7 Tage … unter Schlachtern sehen, aber irgendwie komme ich nie dazu. Unterdessen esse ich fröhlich weiter Fleisch, mehrmals die Woche und keineswegs immer bio, wie ich es mir eigentlich vorgenommen hatte.

Hinzu kommt, dass Politik und Wirtschaft es uns absichtlich einfach machen, die willentliche Ignoranz aufrechtzuerhalten. Sie unterstützen das Prinzip „Aus den Augen, aus dem Sinn“, wo sie nur können. Flüchtlinge werden in Zeltlagern am Stadtrand untergebracht, Obdachlose aus den Innenstädten vertrieben, und der neue Sportwagen wird als noch sparsamer beworben, sodass wir uns beim Kauf einreden können, wir würden gerade etwas für die Umwelt tun. Und wir geben uns damit zufrieden. Wir hätten es in der Hand, etwas gegen dieses Einlullen zu tun und uns aus der gewollten Ahnungslosigkeit zu befreien. Nur tun wir es nicht.

Ich bin nicht sicher, wer schlimmer ist, der Wüterich oder der Ignorierer. Ich weiß nur, dass beide mit dafür sorgen, dass wir die vielen Probleme unserer Zeit nicht in den Griff bekommen. Oder, um genau zu sein: Wir selbst sind es, die dafür sorgen, dass wir unsere Probleme nicht in den Griff bekommen. Wir haben es in der Hand.

Aber Wüten und Nichtstun sind so viel bequemer.

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2 Gedanken zu „Auf der guten Seite

  1. Moin Tobi,

    berechtigte Bemerkungen von Deiner Seite. An den meisten Stellen stimme ich Dir zu – und es sind nicht nur die Wüteriche, die die Realität ignorieren (wollen), das geht auch Gutmenschen so (ich empfehle die Lektüre von Linda Polmann „die Mitleidsindustrie“).

    Allerdings ist die Frage, wie konsequent man sich kümmern und engagieren will. Komplett konsequent bist Du nur, wenn Du Dir in der kanadischen Einsamkeit Deine eigene heile Welt einrichtest. Ansonsten verbringt der Normalmensch wesentliche Teile seiner Zeit mit arbeiten, Haushalt und Familie und muss froh sein, wenn er Zeit hat sich wenigstens grob über das Weltgeschehen auf dem Laufenden zu halten. Wieviel Zeit soll da noch übrig sein um gegen TTIP, genmanipuliertes Essen, das Schrumpfen der Regenwälder und das Flüchtlingselend in Italien zu protestieren? Die Balance wäre ein weiteres Blog wert… :-)

    Liebe Grüße von Andreas, Claudia, Florian und der ungeborenen Nummer 2…

    1. „Die Mitleidsindustrie“ kenne ich. Gutes Buch, und guter Einwand von dir.

      Was die Frage angeht, wie konsequent man sich wirklich um die Probleme unserer Zeit kümmern kann: Diese wird von Wüterich & Co. gerne dahingehend umgedreht, dass all diejenigen Heuchler sind, die mehr Menschlichkeit fordern, ohne selbst 100% ihrer Zeit für Flüchtlinge aufzubringen. Oftmals wird das verklausuliert als „wenn du dafür bist, Flüchtlingen zu helfen, kannst du mir genauso gut deine Adresse sagen und die Wohnungstür offenlassen“.

      Dabei kann man kann eine Sache selbstverständlich unterhalb des absoluten Limits betreiben, ohne dass die anderen „Heuchler“ schreien. Wir alle machen das jeden Tag: Der eine schuftet im Fitnessstudio und isst danach ein Stück Torte, die andere ist religiös, geht aber nur an Ostern und Weihnachten in die Kirche. Da kräht kein Hahn nach. Stattdessen heißt es gar, immerhin tut er was für seine Gesundheit, wenigstens geht sie überhaupt zur Kirche. Und warum auch nicht? Ein bisschen was zu tun ist besser als überhaupt nichts. Das kann dir jeder Bettler auf der Straße bestätigen.

      Trotzdem wird sich über Weniger-als-hundert-Prozent-Verhalten immer dann entrüstet, wenn es um Hilfe in Not, Umweltschutz, Globalisierungsproteste oder irgendetwas anderes geht, für das man sich engagieren muss. Für die Konsequenz-Wächter ist das nichts als eine weitere Bequemlichkeitsstrategie, um das eigene Nichtstun vor sich selbst zu rechtfertigen: Siehste, du Schlechtes-Gewissen-Verbreiter, du bist nicht perfekt, also bist du kein besserer Mensch als ich.

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