Wirklich nicht. Kein bisschen. Stereotpyen, Vorurteile? Habe ich nicht, denn ich gehe ja immer offen und neutral an Neues heran. Q.e.d.
Anderes Thema: Neulich las ich Das Syndrom von John Scalzi (Lock In im englischen Original), und dabei hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis.
In dem Roman entwickeln Millionen von Menschen weltweit das Locked-In-Syndrom: Sie bekommen alles mit, was um sie herum geschieht, aber sie können ihren Körper nicht mehr bewegen. Locked-In gibt es tatsächlich, und ich stelle es mir ziemlich unangenehm vor. Zum Glück spielt Das Syndrom in der Zukunft, und in dieser wurden Hirnimplantate entwickelt, dank derer die Eingeschlossenen mit der Außenwelt kommunizieren können. Indem sie sich menschenähnlicher Roboter („Threeps“, benannt nach ihm hier) bedienen, können sie arbeiten, ausgehen und ein weitgehend normales Leben führen – wenn man davon absieht, dass ihre biologischen Körper tagein, tagaus im Bett liegen, reglos und still und durch Schläuche mit Nährstoffen versorgt.
(Wem das bekannt vorkommt: Der Film Surrogates beschreibt ein ganz ähnliches Szenario, allerdings eins, in dem die Menschen ihre Roboter freiwillig benutzen.)
Der Plot von Das Syndrom ist ein typischer Whodunit inklusive Verschwörung. Die Hauptfigur des Romans ist selbst ein Locked-In-Patient, recht clever und zufälligerweise mit genau den richtigen Kontakten ausgestattet, um den Fall zu lösen. Die Plot-Twists sind nicht allzu überraschend, und das Happy-End bietet poetische Gerechtigkeit satt. Alles in allem liest sich Das Syndrom unterhaltsam und kurzweilig; kein Meisterwerk, aber allemal ein gutes Buch.
Nachdem ich fertig gelesen hatte, sprach ich mit meiner besseren Hälfte über das Buch. Wir unterhielten uns über die Konsequenzes des Locked-In-Syndroms, darüber, dass sich Mind-Maps absolut nicht als literarisches Stilmittel eignen und über die Frage, was der Ermittler wohl für ein Mensch ist.
„Moment mal“, sagte sie da. „Der Ermittler? Du denkst, Chris Shane ist ein Mann?“
„Öhm, ja schon. Wieso?“
„Weil das Buch keinerlei Aussage über das Geschlecht der Figur macht!“
Da war ich erst einmal baff. Das kann unmöglich stimmen, dachte ich, denn in meinem Kopf ist er ja ein Mann. Und weil ich nicht gerne Unrecht habe, ging ich das Buch noch einmal durch. Hier das Ergebnis:
- Der Name der Hauptfigur lautet Chris. Das könnte die Kurzform eines männlichen oder weiblichen Namens sein (z.B. Christian oder Christine), hilft also nicht weiter.
- Auch die verwendeten Personalpronomen geben nichts preis. Da Chris die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, muss der Autor bei keiner Gelegenheit „er“ oder „sie“ benutzen; alles läuft über „ich“ oder (in Dialogen) „du“.
- Apropos Dialoge: Chris wird kein einziges Mal als „Herr/Frau Shane“ angeredet, und auch ihre/seine Eltern nennen ihr Kind nicht „meine Tochter“ oder „mein Sohn“, auch nicht „Mädchen“ oder „Filius“ oder irgendetwas in der Art.
- In zwei Szenen betrachtet Chris von außen den eigenen Körper. Doch in beiden Fällen geht die Selbstbeschreibung nicht auf körperliche Merkmale ein. Ob die Haare lang oder kurz sind, der Körper weibliche Rundungen oder Bartwuchs aufweist – man weiß es nicht.
- Zu guter Letzt kommt der Roman sogar ohne eine Romanze aus. Chris‘ Partnerin ist eine Zynikerin mit weichem Kern, bei der von Anfang an klar ist, dass zwischen den beiden nichts laufen wird. Auch sonst gibt es niemanden, den oder die Chris sexuell attraktiv findet. (Es wäre ohnehin ein schwacher Hinweis gewesen, denn Chris könnte schlieĺich homosexuell sein.)
Es stimmt wirklich: Bis zur letzten Seite lässt der Autor offen, ob seine Hauptfigur männlich oder weiblich ist.
Und trotzdem habe ich mir Chris Shane von Seite Eins an als Mann vorgestellt. Ohne dass ich eine bewusste Entscheidung getroffen hatte, war für mich klar, dass der ich-erzählende FBI-Ermittler, der seinen ersten Tag im Dienst bestreitet, auf jeden Fall ein Mann ist. So viel zum Thema Unvoreingenommenheit.
Aber es wird noch besser: Ich wusste nämlich schon vorher, dass das unspezifierte Geschlecht der Hauptfigur eine Besonderheit des Buches ist. Meine Liebste hat es nur deshalb gekauft, weil diese Information sie neugierig gemacht hatte. Im Prinzip wusste ich also, was mich erwartet. Und trotzdem hatte ich vom ersten Moment an einen Mann vor Augen.
(Davon, dass ich ihn mir als weißen Mann vorgestellt habe, obwohl er seinen Vater als Schwarzen beschreibt, fange ich lieber gar nicht erst an.)
Fazit: Wieder was gelernt. Von heute an gehe ich an neue Situationen oder Bekanntschaften jedenfalls absolut unvoreingenommen heran. Denn Stereotypen gibt es bei mir bekanntlich nicht.
@Alaska7: Hmm. Aber selbst wenn es nur das wäre, würde die Sache immer noch den sogenannten gender bias demonstrieren.
Das ist doch normal. Die Hauptfigur einer Geschichte ist nun mal die Identifikationsfigur für den Leser. Und wenn nichts vorgegeben ist dann im Gedanken so, das man sich möglichst gut mit ihr identifizieren kann. In Deinem und meinem Fall also weiß und männlich. Ich sehe da kein Problem von Voreingenommenheit.