Neulich stieß ich über /r/atheism auf einen Text, der mich über die Vergangenheit und Zukunft von Religion nachdenken ließ. Es handelt sich um den Erfahrungsbericht eines US-Amerikaners, der einer Frau wegen zum (christlichen) Glauben fand. Er lernte in ihrer Kirche neue Freunde kennen und war eine Zeitlang in seiner neuen Religionsgemeinschaft glücklich. Offen gesteht er, wie gut sich der Glaube anfühlte:
Ich war nicht länger eine bloße Ansammlung von Atomen und neurologischen Verbindungen – zum Sterben verdammt. Ich war eine unsterbliche Seele, und mein Schöpfer liebte mich.
Doch nach einer Weile lässt die „anfängliche Supernova aus Glaube und Enthusiasmus“ nach, und die die Zweifel des anonymen Erzählers mehren sich. Viele seiner Ansichten, etwa zur Homosexualität, kollidieren mit der Kirchendoktrin und den vorherrschenden Ansichten in der Gemeinde. Auf Fragen zu Widersprüchen in der Kirchenlehre erhält er fadenscheinige und heuchlerische Antworten. Vor allem jedoch fühlt er sich schuldig, weil er mit seinen Zweifeln die Beziehung zu seiner Freundin gefährdet – sie hat ihm von Anfang an klar gemacht, dass sie nur einen gläubigen Christen lieben könne. Er leidet Seelenqualen, weil seine Glaubenskrise nicht nur ihn betrifft, sondern auch die, die er liebt.
Am Ende folgt er seinem Gewissen, verlässt die Kirche (die Frau verlässt ihn wenig später) und „kehrt zurück zur geistigen Gesundheit“. Aber ein Happy-End sieht anders aus. Die Episode bleibt für den Mann mit Scham behaftet, sie ist ein Makel, über den er nicht gerne spricht.
Einige Details der Geschichte sind es wert, sie gesondert zu betrachten. Der Erzähler kommt aus dem Nordosten der USA, wo man, wie er schreibt, nicht aus tief empfundenen Glauben in die Kirche geht, sondern aus Gewohnheit, oder weil man seine Freunde und Nachbarn treffen möchte. Er deutet an, dass er ohne den Umstand, dass seine Erziehung nicht ernsthaft religiös geprägt war, nicht in der Lage gewesen wäre, seine Schuldgefühle zu überwinden und sich von seinen neuen Freunden im Glauben loszusagen.
Die Tatsache, dass er nicht von Kindesbeinen an kirchlich indoktriniert wurde, betrachtet er als wichtigen Baustein dafür, dass er die Widersprüche in den Lehren der Kirche überhaupt erkannte und dass er die verlogenen Antworten, die man ihm gab, nicht akzeptierte. Bemerkenswert ist auch, dass er einen Großteil des Mutes und der (argumentativen) Munition für seinen schwierigen Schritt aus dem Internet schöpfte.
Ich wusste, ich war nicht allein, und ich wusste, dass die Vernunft und sogar die Moral auf meiner Seite waren.
Seit den Anfängen des Internets dreht es sich in weiten Teilen darum, wofür die Leute sich interessieren. Ob in Newsgroups, Blogs, Diskussionsforen oder Facebook-Gruppen, noch nie war es so einfach wie heute, sich mit Menschen zu vernetzen, mit denen man Steckenpferd oder Fetisch teilt. Egal, ob man DSA-Spieler, Katzenfotofreund, Frauenaufreißer, xenophober Populist, Verschwörungstheoretiker oder internetsüchtig ist, das Internet macht es einem leicht, sich mit seinesgleichen auszutauschen. Die Themenpalette ist praktisch endlos. Kaum ein Hobby, Interesse oder Aktivität ist zu abstrus oder dämlich, als dass man nicht irgendetwas dazu im Netz finden könnte. Man kann sich sogar über Themen informieren, von denen man gar nicht wusste, dass man sie spannend findet; wer sich jemals stundenlang fasziniert durchs Netz geklickt hat, weiß, was ich meine.
Es ist kein Wunder (sic), dass auch die Religion zu den im Internet diskutierten Themen gehört. Tatsächlich ist sie sogar eines der heißeren Eisen. Das liegt nicht zuletzt am anhaltenden Streit um Charles Darwins Evolutionstheorie. Die Idee, dass Menschen und Affen gemeinsame Vorfahren haben, widerspricht auf eklatante Weise der christlichen Schöpfungsgeschichte (und nicht nur dieser). Um den Wahrheitsanspruch ihrer Religion zu verteidigen, versuchen Christen und andere Religionsanhänger daher seit Jahrzehnten, die Evolution zu diskreditieren und ihre eigene „Theorie“, das sogenannte Intelligent Design, als gleichberechtigte Erklärung in Schulbüchern, Lehrplänen und anderswo in Stellung zu bringen. Weitere Brennpunkte der Religionsdebatte sind der Ursprung des Lebens, die Bibel als Wort Gottes sowie prominente Atheisten wie Richard Dawkins oder der kürzlich verstorbene Christopher Hitchens.
Der Netzphilosoph David Weinberger sagt, dass „alles, was jemand glaubt, von jemand anderem angezweifelt werden kann.“ Das wäre eine Binsenweisheit, wenn das Internet nicht die Spielregeln des Anzweifelns revolutioniert hätte. Lange Zeit war es so, dass die meisten Meinungsäußerungen vor Gleichgesinnten stattfanden – im Freundeskreis, am Stammtisch, von der Kanzel herab, also an Orten, wo nicht mit Widerspruch gerechnet werden muss. Vertrat jemand eine Meinung vor einem gemischteren Publikum, dann hatte dieses oft keine Möglichkeit, sich direkt und vor demselben Publikum an der Diskussion zu beteiligen. Ich denke z.B. an Fernseh-Talkshows, Wahlkampfauftritte oder an die klassische Leserbriefspalte in der Zeitung.
Das waren die alten Verhältnisse, und das Internet hat sie (wie so vieles) auf den Kopf gestellt. Jeder kann Onlinediskussionen lesen, und jeder kann sich daran beteiligen – auch die Vertreter der Gegenmeinung. Manche von ihnen liefern Argumente, andere beschränken sich darauf, laut und zahlreich zu sein (Stichwort Shitstorm) oder einfach nur zu stänkern (Internet-Trolle). Doch ganz gleich, wie zivilisiert die Diskussion verläuft, die Tatsache, dass überhaupt eine Diskussion stattfindet, beweist, dass die Ursprungsmeinung nicht von allen da draußen geteilt wird. Noch einmal Weinberger: „Früher waren wir besser in der Lage, Stimmen, die unseren Ansichten widersprochen haben, zu marginalisieren.“
Der gewaltige Hort des Wissens, der das Internet ist, enthält nicht nur Fakten-, sondern auch rhetorisches Wissen. Strohmänner, rote Heringe und all die anderen Tricks, mit denen man eine Diskussion zu seinen Gunsten neigen kann, lassen sich heutzutage mit wenigen Mausklicks entlarven. Hinzu kommt, dass wahrscheinlich jedes Argument, das jemals formuliert wurde, im Netz schon ein paar Dutzend Mal vorgebracht, auseinandergenommen, analysiert und (manchmal sogar stichhaltig) widerlegt wurde. Wer sich also auf eine Diskussion vorbereiten will, etwa um seiner Freundin zu erklären, dass man nicht länger mit ihr in die Kirche gehen kann, der findet im Netz eine fantastische Ressource.
Für die Religionen sind diese beiden Phänomene – Sichtbarkeit anderer Meinungen, Kritik an der eigenen Meinung – ein Problem. Wer an die Wahrheit eines Dogmas glaubt, kann die Möglichkeit eines Irrtums nicht zulassen. Aber wie soll er frei von Zweifeln bleiben, wenn andere ihm Lücken in seiner Weltsicht vorwerfen und diese mit stichhaltigen, nachvollziehbaren Argumente aufzeigen?
Die Fähigkeit des Menschen, über innere Widersprüche hinwegzusehen und sich trotzdem gut zu fühlen, ist vorhanden, aber begrenzt. Darum neigen wir dazu, solche Widersprüche von uns fernzuhalten; aus den Augen, aus dem Sinn. Es ist kein Zufall, dass in Einkaufszentren keine Bettler zugelassen sind, denn die Kunden haben mehr Spaß beim Shopping, wenn sie nicht an das Elend anderer erinnert werden.1
Auch die Religionen widersprechen sich an allen Ecken und Enden. Woher nehmen Christen die Sicherheit, dass ihr Gott der richtige ist und nicht Allah, Jahwe, Thor, Jupiter oder das Fliegende Spaghettimonster? Warum ist bei einer Wunderheilung noch nie ein amputiertes Körperteil nachgewachsen? Stieg wirklich ein unerklärliches, allmächtiges Wesen vom Himmel herab, um heimlich eine Jungfrau zu schwängern, oder könnte Maria einfach die Unwahrheit gesagt haben, damit man sie nicht für ihren Ehebruch steinigt?
(Apropos Hort des Wissens: Keines der obigen Beispiele habe ich mir selbst ausgedacht.)
Mit Fragen wie diesen ist es wie mit den Bettlern im Einkaufszentrum. So lange man sie nicht sieht, braucht man sich nicht mit ihnen zu beschäftigen. Eine andere Strategie, um den Zweifel in Schach zu halten, ist Indoktrination, also die anerzogene Ignoranz gegenüber abweichenden Meinungen. Doch die Vergangenheit zeigt, dass diese Methoden immer schlechter funktionieren, je höher der durchschnittliche Bildungsgrad der Bevölkerung ist, je mehr Erkenntnisse die Wissenschaft ans Licht bringt und je mehr sich die Menschen untereinander vernetzen.
Galileo Galilei konnte noch dafür unter Hausarrest gesetzt werden, dass er das heliozentrische Weltbild propagierte. Heute ist über jeden Zweifel erhaben, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und nicht einmal die rückständigsten Fundamentalisten argumentieren noch dagegen an. Sklaverei, Folter und Mord im Namen der Heiligen Inquisition, Schöpfungsmythen, die Barbarei von Kreuzzügen und Religionskriegen – es gibt eine Menge Positionen, die nach modernen Maßstäben falsch sind und die von Kirchen vertreten wurden, bis der öffentliche Druck so groß wurde, dass sie davon abrückte. Man stelle sich vor, der Papst würde morgen behaupten, dass es Gottes Wille sei, den Ungläubigen mit Feuer und Schwert den wahren Glauben nahezubringen. Er würde den größten Shitstorm aller Zeiten lostreten, und er hätte sich jeden einzelnen braunen Klumpen redlich verdient.
Gegen die kirchlichen Irrlehren, die wir überwunden haben, wirken die aktuellen Streitthemen fast banal. Heute geht es um die Gleichstellung von Homo- und Heterosexuellen und Sex vor der Ehe, um Abtreibung, Verhütung und das Abschneiden von Vorhäuten. Nicht, dass diese Themen belanglos wären. Im Gegenteil, es ist wichtig, übereifrigen Missionaren entgegenzutreten, die im Namen ihrer Religion (oder einer sonstigen Weltanschauung) anderen ihre Vorstellungen eines guten Lebens aufs Auge drücken wollen. Dennoch steht heute weniger auf dem Spiel als vor fünfhundert oder tausend Jahren. Es geht nicht mehr (oder zumindest nur noch äußerst selten) um Krieg oder Frieden, sondern darum, welche Form das friedliche Zusammenleben haben soll. Es steht nicht mehr zur Debatte, wie viele Ketzer getötet werden, sondern wie viele Babys zur Welt kommen. Die Menschheit macht Fortschritte.
Aus der Tatsache, dass die Kirche seit Hunderten von Jahren auf dem Rückzug ist, schließe ich, dass sie sich auch die jetzigen Kämpfen irgendwann verloren geben wird. Vermutlich nicht, so lange ich lebe, aber man kann nicht alles haben.
Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass Religion langfristig immer weniger Bedeutung haben wird – außerhalb des Privaten. Zu Hause und in ihrer Kirche/Moschee/Synagoge/Tempel werden die Menschen weiterhin an Gott glauben. Sie werden den Gebetsteppich ausrollen, ihre Kinder taufen und Hanukkah feiern, und ich werde mich für jeden einzelnen freuen, dem der Glaube hilft, glücklich zu werden – solange er oder sie nicht versucht, anderen seine Form von Glück aufzudrängen. Denn das ist der Grund, warum ich den Reddit-Text so gerne las: Weil er zeigt, dass diese Art von Zwangsbeglückung nicht mehr funktioniert. Dass eine Behauptung nicht dadurch unantastbar ist, dass sie in einem alten Buch steht. Dass es nicht mehr ausreicht, den Gläubigen das Fragen zu verbieten und ihre Zweifel kleinzureden. Dass der Einfluss der Kirche fast nirgends auf der Welt mehr dazu ausreicht, kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen.
Der Einfluss von Religionen auf die Leben von Anders- und Nichtgläubigen wird immer weiter schwinden. Das wird wahrscheinlich weniger an universellen Menschenrechten und einer vernunftbasierten Ethik liegen als einfach daran, dass die Instrumente, mit denen die Schäfchen jahrtausendelang bei der Stange gehalten wurden, in der Moderne stumpf werden. Es ist nicht selbstverständlich, dass das so bleibt. Aber unter der Voraussetzung, dass der gesellschaftliche Fortschritt der Menschheit nicht durch das Ende der Welt oder die Folgen des Klimawandels zunichte gemacht werden, dürfte die weitere Entwicklung ein Grund zur Freude sein. Homosexuelle werden ihre Lebensentwürfe verwirklichen können, ohne sich dafür von Religionsanhängern beschimpfen lassen zu müssen. Frauen werden über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen, ohne einem alten Mann in Rom Rechenschaft ablegen zu müssen. Und Besitzer eines wachen Geistes werden keine Beleidigungen wie diese mehr ertragen müssen.
1 Das Aus-den-Augen-Prinzip ist nicht per se schlecht. Neulich bekam ich eine Klimaanlage geschenkt, obwohl Klimaanlagen schlecht fürs (Welt)Klima sind und ich fest entschlossen war, die Sommerhitze ohne Kühlung zu ertragen. Um nicht schwach zu werden und die geschenkte Anlage doch noch anzuschließen, verbannte ich sie in die hinterste Ecke der Abstellkammer, wo ich sie nicht sehen muss.