Vor anderthalb Jahren habe ich einen Roman über staatliche Datensammelwut und Verfolgungswahn geschrieben. Seitdem sind zwei Dinge geschehen:
1. Edward Snowden hat enthüllt, dass die amerikanische NSA und weitere Geheimdienste weltweit Internetnutzer ausspionieren.
2. Ich lebe für eine Weile in den USA. Ja, genau: Ich wohne im Land mit dem größten Datenhunger aller Zeiten.
Ich bin beileibe kein Datenschutz-Experte, aber ein völliger Laie bin ich auch nicht. Seit mehr als einem Jahrzehnt beschäftige ich mich regelmäßig mit dem Thema, und ich gebe offen zu, dass ich dachte, in groben Zügen zu wissen, welche Enthüllungen in den nächsten Jahren denkbar wären und welche nicht. Ich brauche nicht extra zu erwähnen, dass mich Entwicklung Nr. 1 völlig unvorbereitet getroffen hat. Und aufgrund von Entwicklung Nr. 2 haben PRISM und Co. für mich persönlich einschneidendere Konsequenzen als für die meisten meiner Leser.
Damit bin ich nicht allein. Vergangene Woche fragte ich einen deutschen Freund, der ebenfalls in den USA lebt, ob wir unsere öffentlichen PGP-Keys austauschen wollen. Er antwortete, er möchte lieber keine verschlüsselten Mails verschicken: In ein paar Jahren wird er sich möglicherweise auf eine Green Card bewerben, und darum möchte er nicht riskieren, die Aufmerksamkeit der amerikanischen Behörden zu wecken.
Das Schlimme ist: Vermutlich hat er recht. Nach all den Rechtsverletzungen, die in den vergangenen Wochen ans Licht gekommen ist – wer mag da noch mit Sicherheit sagen, dass die Immigrationsbehörde wirklich keinerlei Informationen über das Kommunikationsverhalten meines Freundes anfordern wird? Ist es abwegig zu vermuten, dass seine Chancen auf eine permanente Arbeitserlaubnis schrumpfen, sobald er sich entscheidet, Teile seiner elektronischen Kommunikation zu verschlüsseln? Stärker im Fokus der Aufmerksamkeit stünde er damit mit Sicherheit. Technisch wäre eine solche „Entscheidungshilfe“ für die Immigration trivial, und spätestens nach Snowdens Enthüllungen ist sie auch plausibel.
Gegen die Sache mit der Green Card ist das Problem, das ich derzeit habe, geradezu lächerlich klein: Ich habe in den vergangenen Monaten mehrmals mit einem Arzt per E-Mail kommuniziert (das ist hierzulande üblich). Die E-Mails waren alle unverschlüsselt. Jetzt frage ich mich, ob und wie viele Geheimdienstmitarbeiter meine Mails gelesen haben und dadurch ohne Gerichtsbeschluss Zugriff auf vertrauliche medizinische Informationen bekommen haben. Und dabei habe ich nach dem Umzug extra noch eine Vorsichtsmaßnahme getroffen: Ich habe mir eine neue E-Mailadresse für offizielle Angelegenheiten angelegt, und zwar bei Yahoo anstatt bei GMail, um Googles Datenhunger ein Schnippchen zu schlagen. Ich wusste nicht, dass Yahoo nach Microsoft das zweite Unternehmen war, das Daten an PRISM weitergibt (ab März 2008).
Ohnehin ist PRISM nur die Spitze des Eisbergs. Vergangene Woche kam heraus, dass der US Postal Service sämtliche beförderten Briefe abfotografiert. Die USA haben Gebäude der EU verwanzt und Computersysteme infiltriert. Die Briten haben dank des Schnüffelprogramms Tempora Zugriff auf den gesamten Internetverkehr zwischen Europa und Nordamerika. Ich frage lieber gar nicht, welches international verbriefte Bürgerrecht als nächstes unterwandert und ausgehöhlt wird. In wie vielen geheimen Datenbanken gibt es Einträge mit meinen Daten? Wird die (feste) IP-Adresse überwacht, mit der ich von meiner amerikanischen Wohnung aus surfe? Liest eine automatisierte Software diesen Blogeintrag und stuft mich aufgrund der hierin geäußerten Kritik an den USA als antiamerikanisch ein, vielleicht gar als potenziell gewaltbereit?
Das Ausmaß, das die anlasslose Überwachung der Bevölkerungen von westlichen Demokratien angenommen hat, ist schockierend. Schlimmer ist in meinen Augen nur noch die Verachtung, die Edward Snowden entgegenschlägt. Anstatt über die Spähprogramme zu diskutieren, die der Whistleblower aus altruistischen Motiven enthüllt hat, geht es in Amerika vor allem um die Frage, wie man seiner habhaft wird, um ihn wegen Geheimnisverrats ins Gefängnis zu stecken. Selbst in der Daily Show, wo man sich bislang noch immer auf die Seite der Opfer von verfehlter Politik stellte, hat für Snowden nur Hohn übrig.
Aus Deutschland erntet Snowden wahlweise Gleichgültigkeit, Zynismus oder verächtliche Realitätsverleugnung. Bei den Politikern frage ich mich, ob der Grund für ihre kaltherzigen Reaktionen Unverständnis über das Ausmaß des Skandals ist, oder ob sie es sich unter keinen Umständen mit dem Verbündeten USA verscherzen wollen. Ein Verbündeter, wohlgemerkt, der Deutschland für einen Partnerstaat dritter Klasse hält („3rd party state“) und es sich vorbehält, diesen auszuspionieren, wann immer es ihm in den Kram passt.
Wie auch immer, ich schäme mich zutiefst dafür, dass mein Land Edward Snowdens Asylantrag ohne viel Federlesens abgelehnt hat. Er hat eklatante Missstände angeprangert und dadurch nicht nur uns allen einen unschätzbaren Dienst erwiesen, sondern vor allem seine Freiheit und möglicherweise sein Leben in Gefahr gebracht. Und der deutschen Regierung ist das nicht mehr als ein Achselzucken wert? Snowden hat mehr verdient, und laut Grundgesetz sollte das nur eine Formalität sein. Die Würde des Menschen ist unantastbar, es sei denn, die Amerikaner wollen den betreffenden Menschen unbedingt einsperren.
Oder war Angst der Grund, warum sein Asylantrag abgelehnt wurde? Angst davor, wie weit der „Verbündete“ USA gehen wird, um an Snowden ein Exempel zu statuieren? Bei der Ermordung bin Ladens hat die Obama-Regierung ohne Zögern Völkerrecht gebrochen, indem sie auf dem Territorium eines souveränen Staates und ohne dessen Einwilligung eine Kommandoaktion durchführen ließ, bei der neben Osama Bin Laden vier weitere Personen getötet wurden. Sicher, Deutschland ist nicht Pakistan. Aber mehr als ein drittklassiger Partner sind wir auch nicht. Wer will schon den Kopf dafür hinhalten, dass Obama seine Marines niemals nach Deutschland schicken wird, um den Verräter Snowden liquidieren und ins Meer schmeißen zu lassen?
Auf europäische Hilfe braucht Edward Snowden also nicht zu hoffen. Anfang der Woche hat immerhin Venezuela seinen Asylantrag akzeptiert. Leider sieht es im Moment nicht so aus, als würde er jemals lebendig und als freier Mann auf venezolanischem Boden stehen. Die USA ziehen alle Register, um die restlichen Staaten zur Mithilfe bei der globalen Menschenhatz zu zwingen – die erzwungene Zwischenlandung der bolivianischen Präsidentenmaschine in Wien war ein Lehrstück in vorauseilendem Gehorsam. Mit dem mächtigsten Land der Welt will es sich offenbar keine Regierung verscherzen. Nicht einmal dann, wenn sie dafür ihre Überzeugungen und ihr Mitgefühl über Bord werfen muss.
Wenn Snowden Glück hat, kann er sich wie Julian Assange in ein Botschaftsgebäude flüchten, wo er vor dem Zugriff der USA (weitgehend) sicher ist, das er aber nie wieder verlassen darf. Wenn er Pech hat, landet er wie Bradley Manning in einem amerikanischen Militärgefängnis, wird gefoltert und von der US-Justiz mit absurder Unnachgiebigkeit verfolgt. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er eine dritte, bessere Möglichkeit findet. Aber nach den Ereignissen der vergangenen Wochen sehe ich sie nicht.
Das Enthüllen von Regierungsverbrechen galt einmal als nobel und nachahmungswürdig. Heute muss man leider davor warnen. Wir leben im Zeitalter des „War on Terror“, in dem Anstand und Gerechtigkeit offenbar aus der Mode geraten sind. Schöne neue Welt.
Hallo! Habe dein Buch vor knapp zwei Wochen gelesen und war zutiefst beeindruckt einen Zukunftsroman zu lesen, der zur selben Zeit Realität wurde.
Ich frage mich, was nötig wäre um deutsche Politiker aufzuwecken. Oder vielleicht sind sie schon längst hellwach, haben aber Angst vor den USA? Wahrscheinlich werden wir in Zukunft wieder eine Flucht ins private nicht digitale erleben. eine traurige Entwicklung.
Hallo Jens,
die Frage ist weniger, was geschehen müsste, sondern was noch alles geschehen wird. Die gezielte Tötung von Edward Snowden? Verschüsselungsverbot? Predator-Drohnen über dem Brandenburger Tor? Vor zwei Jahren hätte so etwas nach Science Fiction geklungen. Heute dagegen…
Auf der anderen Seite steht die Bundestagswahl vor der Tür. Ein entsprechendes Wahlergebnis könnte das notwendige Signal sein. Einen Versuch ist es sicherlich wert.